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Namenlose Gräber – Termin Hamburg

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18 Monate ist es her, dass ich mit einem Kreuz auf den Schultern vom Hamburger Hauptbahnhof zum Öjendorfer Friedhof fuhr, um am Grab des Obdachlosen Andre Heinz Martinßen ein Grabkreuz aufzustellen. Wochen zuvor war der damals 49-Jährige in einem Zelt unter der Hamburger Kennedybrücke an einer Lungenentzündung gestorben. Medien hatten darüber berichtet. Am 29. April 2014 wurde Andre Heinz Martinßen auf dem Öjendorfer Friedhof in einem Reihengrab bestattet. Kein Name – kein Datum.

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Rückblick:

Öjendorfer Friedhof – Feld 205, Grabnummer 205-03-156. Als ich im Frühjahr des vergangenen Jahres den Obdachlosen Andre Heinz Martinßen zu Grabe trug, hatten die Gräber der Verstorbenen ohne Angehörige noch keine Namen. Überall steckten nur diese kleinen gelben Sichtreiter in der Erde, mit nur einer Nummer darauf und ich fragte mich, wie das denn sein könne? „Im Tod nur eine Nummer“?

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Wie sollen Freunde und Bekannte am Grab denn trauern, wenn nur diese Nummer in der Erde steckt? Gibt es nichts, woran man die Trauer auch fest machen kann? Kein Datum, kein Hinweis? Nicht mal ein Name?

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Was passiert mit Menschen, die sterben und niemanden mehr haben, der sich um ihr Grab kümmert? Wo und wie werden Menschen bestattet, die kein Geld haben für ein reguläres Grab?

Diesen und anderen Fragen bin ich nachgegangen, mit zum Teil erschreckendem Ergebnis.

(Ausführlicher Bericht ab 23.11.)

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Anfänge hier: https://www.facebook.com/notes/max-bryan/nachruf-toter-obdachloser/775090999175484

So fand ich unter anderem heraus, dass das Hamburger Bestattungsgesetz standardmäßig keine weiteren Leistungen vorsieht. Kein Kreuz, kein Stein, kein Name, nur eine Nummer, die Verstorbene ohne Angehörige damals mit auf ihr Grab bekamen und jahrelang wurden mittellose Menschen so bestattet. Darunter auch Andre Heinz Martinßen, auch er war obdachlos und wurde nur 49 Jahre alt. Am 29. April des vergangenen Jahres wurde er bestattet, in einem Reihengrab – ohne Name – ohne Datum – fast anonym – tut die Stadt denn gar nichts?

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Nachfrage bei der Hamburger Friedhöfe AöR und „Nein“, mehr sei nicht vorgesehen, wenn der Verstorbene keine Angehörigen mehr hat, dann sei dies das „Standardverfahren“, das heißt, der Verstorbene wird in einem Reihengrab auf dem Öjendorfer Friedhof beigesetzt und Grabkreuze seien „hierfür nicht vorgesehen“, teilte ein Unternehmenssprecher auf Nachfrage hin mit (April 2014).

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Mein Aushang vom April 2014.

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Der Zettel hing nicht lang 🙂

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Zu Gast bei Marcel & „Masse“ im Keller des Hinz & Kunzt Gebäudes.

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Freiwillige Helfer von Hinz & Kunzt bauten dem „Andy“ ein Grabkreuz. Aufnahme vom April 2014.

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Erstmals zu sehen hier im Blog: Wie alles begann … im Mai 2014!

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Marcel – der Hausmeister.

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Marcel (40) ist fest angestellt bei Hinz & Kunzt und total stolz darauf dort sein zu dürfen. „Es ist anstrengend und man hat am Ende des Tages echt so ´ne Birne, aber ich möchte das hier nicht mehr missen“, sagt der junge Mann, der hier als Hausmeister arbeitet und über Hinz und Kunzt auch eine Wohnung bekam.

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Ob er ein „Goodguy“ ist – „ein guter Junge“ – so wie es auf seinem T-Shirt steht – frage ich Marcel (40) – und der Mann mit dem Pinsel in der Hand wird nachdenklich.

Nach einer schwierigen Vergangenheit in Heim und Wohngemeinschaften fand Marcel im Leben auf der Straße einen „Fluchtpunkt“, „da konnte ich dem Stress entfliehen“, erzählt der Hinz & Künztler rückblickend. „Irgendwann dann hatte ich die Nase voll“ und heuerte hier bei Hinz & Kunzt an, dem Herausgeber der gleichnamigen Obdachlosen-Zeitung, die überall in der Stadt von Obdachlosen verkauft wird und Marcel nutzte seine Chance. „Ich will daran festhalten, an der Wohnung, an dem Job – ich bin so froh, dass ich diese Chance bekommen habe“, sagt Marcel im Interview und hat genau im Blick, was jetzt noch zu tun ist.

„Nur noch ein bisschen Lasur muss drauf“ und natürlich das Namensschild nicht vergessen, merke ich an und schon muss ich auch weiter – der nächste Termin wartet.

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Auch „Masse“ (31) hat´s nicht leicht im Leben.

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Früher selbst mal „Platte“ gemacht, kennt er die Probleme, wenn man irgendwann den Anschluß zur Realität verliert. „Irgendwann lebst du in deiner eigenen Welt“, erzählt er und berichtet, wie er am Boden zerstört war, wie er lustlos durch Hamburg irrte, nichts habe ihn mehr interessiert, weder seine Ex, noch sein Kind, er habe sich „einfach gehen lassen“, bis Marcel dann kam, der Hausmeister hier bei Hinz und Kunzt, der habe ihm geholfen „ohne zu regeln“, sagt der 31-Jährige und genau das sei auch wichtig. Die bloße Anwesenheit – ohne zu reglementieren – helfe schon dabei „neue Wege zu gehen“.

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„Masse“, einer der fleißigen Helfer, die das Grabkreuz für Andy ermöglicht haben.

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Problem: Öjendorf liegt nicht gerade um die Ecke und keine Ahnung, warum Friedhöfe immer am Stadtrand gebaut werden. Ohne Auto und mit der Bahn fährt man gut 40 Minuten. Infos hier:
http://www.friedhof-hamburg.de/oejendorf/kurz-info-fuer-besucher/

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Fragende Blicke in der U-Bahn.

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Mein Videotagebuch läuft seit ´97 und machte auch hier keine Ausnahme. Alles ist live, alles ist echt und ich bin ein Fan der Echtzeit.

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Nichts ist spannender als das wahre Leben und nichts ist echter als die Wahrheit.

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Detlef – auch „Wolle“ genannt, weil er aussieht wie „Wolle Petry“, zumindest sagen das seine Kumpels. Andy war einer von ihnen. Nun ist der tot.

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„Wenn ich mal sterbe, kommst Du dann zu meiner Beerdigung?“ – hatte Detlef seinen Kumpel zu Lebzeiten noch gefragt und nun es ist genau umgekehrt. Menschen, die auf der Straße leben, werden nicht alt. 45 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Obdachlosen in Deutschland und anderswo.

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Und es wird düster. Hinter vorgehaltener Hand erzählt Detlef mir, dass Andy aus einem der Container des Winternotprogramms geflogen sei, angeblich weil er zu viele Flaschen gesammelt hat. Doch das sollte kein Grund sein, die Menschen vor die Tür zu setzen. Selbst in einer Stadt wie Hamburg – mit mehr als 130 Sozialstationen – ist ein bedingungsloses Winternotprogramm leider immer noch reinste Utopie!

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Jesus-Statue auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Der Ort hat was echt Friedliches.

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„Der Reder Friedrich Wenke wollte ursprünglich gleich drei Figuren aufstellen – Jesus, Moses und Martin Luther – aber eine tut´s irgendwie auch.

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Überhaupt sind die Anlagen sehr gepflegt und stellenweise uralt. Eine der Grabplatten stammt von 1899 und erinnert an Vincent Plagius – dem Gründer des akademischen Gymnasiums.

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Auch Alfred Lichtwark – der Gründer der Hamburger Kunsthalle -wurde in den 60-er Jahren nach Ohlsdorf umgebettet und natürlich sind wir immer noch in Öjendorf, bei den Reihengräbern ohne Namen.

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Wir nähern uns dem Grab von Andy. Vor 7 Tagen wurde er hier beerdigt und Detlef konnte nicht dabei sein. Runtergebrannt bis auf 20 Cent, mehr hatte er nicht mehr. Zu wenig für eine Fahrkarte und das Schlimmste daran, ich konnte ihm nicht helfen, war selbst am Limit. Für manche Dinge gebe ich auch mein letztes Hemd.

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Detlef (56) muss Pause machen. Er hat ein böses Bein.

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„Ein paar Jahre noch und ich komm auch hier her“, erzählt er mit leerem Blick nach vorn und ob ich ihm dann auch so ein Kreuz baue, will er wissen. 17 Jahre hat Detlef als Fernfahrer gearbeitet, sein Rücken ist kaputt und er hat Arthrose, muss jeden Tag Tropfen nehmen gegen die Schmerzen. Der Container an der Trinitaskirche war sein Sprungbrett runter von der Straße und von da aus ging es in die Kirchenkate, eine für Pfarrhöfe typische Einrichtung, um Obdachlosen wieder eine Zukunft zu bieten. Gegen ein geringes Entgelt kann dort jeder wohnen, der sich darum bemüht, doch die Warteliste ist lang.

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Die Sache ging ihm merklich nah. Nur noch wenige Meter und wir sind da …

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Die Blumen, wie ich sie vor knapp 7 Tagen aufs Grab gestellt hatte, sahen noch gut aus.

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Und damit auch die letzten 10 Euro, die ich (damals) in der Tasche hatte. Die Sache war es mir wert. Schließlich kannte ich ihn und für uns hätte er das selbe getan.

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Dann mal los …

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So ein Kreuz zu bauen ist gar nicht so schwer und kostet nicht die Welt. Zwei Kanthölzer 8×8 (wetterfest, am besten Eiche) übereinanderlegen und das horizontale Stück quer zum Vertikalbereich positionieren. Schnittkanten anzeichnen und an den Bleistiftstrichen entlang mit einer Säge die Versenkungen ins Holz fräsen, also darauf achten, die Hölzer nicht ganz durchzusägen. Jeder Schnitt sollte die selbe Tiefe haben. Am Ende mit dem Meißel das Holz zwischen den Linien entfernen und beide Hölzer an den versenkten Stellen ineinanderstecken – fertig ist das Holzkreuz (Leim nicht vergessen 🙂

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Als Detlef die Blumen pflanzte, erinnerte mich das irgendwie an einen Vater, der seinen toten Sohn begräbt. Sorgsam, liebevoll, andächtig und irgendwie auch professionell. „Ich habe mal auf einem Friedhof gearbeitet“, ein „1 Euro-Job“, verrät Detlef mir ganz beiläufig und die Arbeit habe ihm auch Spaß gemacht.

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Im Hintergrund deutlich zu erkennen, die Zahl der Verstorbenen ohne Angenhörige ist nicht gering. Überall stecken kleinen gelbe Sichtreiter in der Erde, die Friedhöfe der Stadt sind voller vergessener Seelen.

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Die gute Nachricht: Die Stadt hat reagiert und heute braucht es keine Kreuze mehr. Jeder Verstorbene ohne Angehörige bekommt ab sofort einen Stein mit auf´s Grab, mit einem Namen und einem Datum darauf – das der Geburt und das des Todes und das meine Damen und Herren, ist eine wahre Neuerung – IM TOD NICHT LÄNGER NUR EINE NUMMER – IM TOD AUCH EIN NAME – „Hurra“, könnte man jetzt sagen.

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Andre Heinz Martinßen (†49) starb am 20. Februar 2014 allein in einem Zelt unter der Kennedybrücke und wurde am 29. April 2014 im Sammelverfahren und per Reihengrab ohne Name und Sterbedatum bestattet.

ICH DANKE ALLEN – die daran mitgewirkt haben – das Projekt „Namensplaketten auf Steinen“ für Verstorbene ohne Angehörige zu ermöglichen. Vielen Dank dafür!

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Und Andy, falls Du hier zuschaust, schau her, was Dein Tod noch bewirkt hat. So lange dieses Kreuz hier steht, werden die Menschen sich immer an Dich erinnern – und wie alles mal begann – mit einem Zelt unter der Brücke – und einem Mann – dessen Tod nun einen Namen trägt.

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– EINLADUNG –

Liebe Leser, am Donnerstag, den 19.11.2015 ist es soweit. Die Zeit der namenlosen Gräber ist vorbei. Zusammen mit Hamburgs Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit weihen wir die neuen Gräber auf dem Öjendorfer Friedhof in Hamburg ein. Freunde und Bekannte des Verstorbenen sowie alle Interessierten sind herzlichst hierzu eingeladen.

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TERMIN: 19.11.2015 – 10 Uhr – Friedhof Öjendorf
Manshardtstraße 200 – 22119 Hamburg
Grabfeld Nr. 318
– Einen Friedhofsplan finden Sie hier:

Klicke, um auf Plan_Oejendorf.pdf zuzugreifen

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Anfahrt & Allgemeine Info
http://www.friedhof-hamburg.de/oejendorf/kurz-info-fuer-besucher/

Programm:

10.00 Trompetenstück zur Einführung (Gero Weiland)
10.04 Begrüßung durch Wolfgang Purwin, Geschäftsführer der Hamburger Friedhöfe -AöR- oder Rainer Wirz, Bereichsleiter Friedhöfe der Hamburger Friedhöfe -AöR-.
10.06 Rede der Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit
10.16 Andacht mit Friedhofspastorin Erler, begleitende Trompetenmusik
10.30 Rede Max Bryan – „Wie alles begann – Nachruf Andre Heinz Martinßen“
10.45 Ende der Veranstaltung. Im Anschluss können Gäste Blumen auf Steine ihrer Wahl legen.

Hintergrund & Anfänge:

Todesnachricht (24.02.2014)

Toter Obdachlose ist identifiziert

Interview mit Andre Heinz Martinßen (10 Monate vor seinem Tod) –> http://www.youtube.com/watch?v=A9P0QEqhEVg&list=UUWbqAhkZlc-5P2_rEJtcXkg

Kreuzbauer gesucht (29.4.2014)
http://www.hamburger-wochenblatt.de/st-georg/lokales/nachruf-toter-obdachloser-termin-29-april-d16559.html

„Das Kreuz steht“ (7.5.2014)
https://www.facebook.com/notes/max-bryan/nachruf-toter-obdachloser/775090999175484

Foto: https://www.facebook.com/161102710574227/photos/pb.161102710574227.-2207520000.1447303592./813976258620199/?type=3

Reblog:
http://horst-schneider-altona.blogspot.de/2014/05/wieder-ist-ein-mensch-ohne-wohnung-ein.html

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Liste toter Obdachloser in der Lobby des Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt.